Montag, 11. April 2016

Gezeiten der Veränderung




Vielleicht doch lieber mit Haarreif? Oder ich probier' es doch mit der roten Spange.

Seit 15 Minuten stehe ich im Bad vor dem Spiegel und bemühe mich zu verdecken was sich nicht verdecken lässt. Eine ganze Strähne grauer Haare. Auf einmal war sie da, als wäre ihr über Nacht die Farbe entzogen worden und unweigerlich schiebt sich das Bild von toter Erde auf der die Blumen verdorren in meine Gedanken. Mit 36 also, das war 's dann also mit der Jugend. Natürlich nur der äußeren Jugend. Man ist schließlich so nur so alt wie man sich fühlt. Doch was macht man, wenn das gefühlte Alter das körperliche Alter weit übersteigt?

Meine Gehirn ist müde geworden, müde von den täglichen Eindrücken die es verarbeiten muss. Müde ob der großen Anzahl, die ein wirkliches Zur Kenntnis nehmen unmöglich machen. Mit den Jahren wurden die Lichtblitze für Besonderes rarer, zumindest scheint es so. Vermutlich sind sie aber nur im großen Rauschen der Gleichgültigkeit untergegangen.

Mein Herz ist müde geworden, müde von den täglichen präsentierten Ereignissen, die es wütend oder gar traurig machen müssten. Wenn man sich alles Gute im Menschen als eine bis zum Rand gefüllte Wanne vorstellt, dann muss irgendjemand vor Jahren den Stöpsel gezogen haben und die einst so prall gefüllte Wanne verliert nun Stunde für Stunde an Inhalt, während die Quelle für Erneuerung nur ein tropfender Wasserhahn ist. Nachrichtensendungen bestehen 15 Minuten lang aus all dem Schlechten was auf der Welt passiert und am Ende wird noch ein neugeborenes Tigerbaby präsentiert um den Menschen ein gutes Gefühl zu vermitteln, oder gar das Aufkeimen hinterfragender Gedanken zu dämpfen. Schließlich soll man ja nicht verdrießlich in den Prime-Time Film gehen.

Mein Bauch ist müde geworden, müde von der täglichen Arbeitslosigkeit bezüglich des Treffens von Entscheidungen. Es ist lange her, dass ich mein Bauchgefühl in eine Entscheidungsfindung einbezogen haben. Dabei hat mir in früheren Jahren gute Dienste geleistet bei dieser Aufgabe. Stets war auf ihn Verlass, viele gute Entscheidungen haben wir zusammen gefällt. Bauchgefühl sollte man an dieser Stelle nicht mit Spontanität verwechseln. Es waren durchaus langwierige Entscheidungsprozesse, man könnte sogar von Diskussionen sprechen. Denn es ist gar nicht so einfach, das richtige Bauchgefühl zu erkennen. Da gibt es eine Menge an Nebengefühlen die man erst einmal verstehen und wegfiltern muss. Dieser Bauchgefühlsprozess ist zeitintensiv.  Zeit die man heute nicht mehr hat. Wir entscheiden wen wir gut finden oder nicht per Wischgeste in einer App, kaufen Produkte auf Basis von Sternebewertungen, tun Dinge weil sie #trenden und adaptieren die Meinung der Mehrheit, weil es so schwer fällt eine eigene zu bilden und diese auch zu behalten.
Meine Füße sind müde geworden, müde von den steinigen Wegen, den ungegangenen Pfaden derer, die anders Denken. Müde vom "Für etwas Einstehen", müde vom Standhaft bleiben. Die Allgemeinheit hat eine große Anziehungskraft, wie ein schwarzes Loch, dass alles in seinen Sog der Gleichheit und des Gleichdenkens hineinzieht. "Meinungsfreiheit" ist nur noch ein schwaches Echo in den Bergen der Erinnerung und alles Unkonforme wird sogleich von neuesten Geschwür der Menschheit, dem Shitstorm, angefallen. Ist es nicht paradox, dass die sozialen Netzwerke entlarven wie unsozial wir sind?

Meine Ohren sind müde, müde von der Lautstärke dieser Welt. Müde vom unsäglichen Android Pfeifton der always online Generation, dem unfreundlichen Geblubber des S-Bahn Personals, das gestern noch am Seminar zur Freundlichkeitsoffensive teilgenommen hat, lauten Gesprächen, Smartphones die als Ghettoblaster vergewaltigt werden, vom Hupen des "Hintermanns", weil man nicht noch nicht bei Gelb losgefahren und von den losgetretenen Beschwerden der Genderaktivisten, die an dieser Stelle betonen möchten, dass es auch Hinterfrauen sein könnten. Ich sehne mich nach Ruhe. Ich rede nicht von CD's mit Waldgeräuschen, von Yoga-Kursen oder Thai-Massagen. Ich will echte Ruhe. Die Ruhe des Hafers, der meine Handflächen berührt während ich durch das Feld spaziere. Die Ruhe eines Plastikdeckels, der am Hinterrad eines Kinderfahrrads klappert, während es den Gehweg entlang fährt und die Ruhe die das Lachen und die strahlenden Augen des Kindes erzeugt, dass sich über den klappernden Plastikdeckel an seinem Fahrrad freut.

Vielleicht trage ich meine Haare doch lieber offen, meinem Papa hat das immer gefallen und ihm will ich heute schließlich gefallen. Vor nicht ganz 3 Jahren wurde bei ihm Demenz diagnostiziert. Er war für mich immer jemand zu dem ich aufschauen konnte, auch ganz abseits von kindlicher Glorifizierung. Umso schwerer fällt es jetzt ihn so leiden zu sehen. Er ist in letzter Zeit sehr wütend, wütend auf sich selbst, wütend weil er Dinge vergisst, manche nur kurzzeitig, manche für immer. Während alles um ihn herum älter wird, wird er immer "jünger", weil die weiter zurückliegenden Erinnerungen wieder kehren und die kürzlich erlebten Dinge verschwinden. Es wird der Tag kommen, an dem er in mir nicht mehr seine kleine Fran sieht, sondern eine fremde Frau, weil er in einer Erinnerung angekommen ist, in der er noch keine Tochter hat.

Das Leben besteht aus Gezeiten. Gezeiten der Veränderung. Veränderungen die dir, wie die Flut, die Beine wegreißen und du kämpfen musst um nicht unterzugehen. Veränderungen, die sich so rar machen wie das Wasser bei Ebbe, wo man um jeden Neuanfang ringen muss, weil einen sonst die Dürre der Gewohnheit vertrocknen lässt. Wenn das Älterwerden für eine Sache gut ist, dann das man lernt mit den Gezeiten besser umzugehen. Sich für die Ebbe einen Vorrat anlegt und für die Flut einen Anker zulegt, der einem hilft den Halt nicht zu verlieren.


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